Es war einmal vor 20 Jahren ein kleiner Junge. Blonde Locken umschmeichelten seine dicken Backen. Er war verliebt. Verliebt in Arielle die Meerjungfrau mit ihren wundervollen, langen, roten Haaren. So verliebt, dass er sich manchmal seine rote Jogginghose über den Kopf stülpte und dachte, er wäre selbst die kleine Meerjungfrau. Vor dem Spiegel tanzte er im Kreis und summte zu den Liedern des Disney-Klassikers. Der kleine Junge heißt übrigens Christopher. Ja, es ist meine Geschichte, die ich euch hier beschreibe. Vor 20 Jahren aber wollte niemand solche Stroys erzählen. Schon gar nicht in Büchern. Mit „Julian is a Mermaid“ setzt Jesscia Love neue Maßstäbe und bringt Diversität ins Kinderzimmer.
Julian ist fasziniert von Meerjungfrauen. Am liebsten wäre er selbst eine. Auf dem Nachhauseweg mit seiner Nana sieht er in der U-Bahn drei Frauen in bodenlangen Kleidern und mit fabelhaften Frisuren. Sie sehen aus wie Meereslebewesen. Er ist so fasziniert von deren Schönheit, dass er sich zuhause selbst in eine Nixe verwandelt. Die Gardinen werden zur Meerflosse umfunktioniert und die Zimmerpflanze dient als prachtvoller Haarschmuck.
Normalerweise kämpfen in Kinderbüchern die Jungs gegen furchteinflößende Drachen und die Mädchen warten in ihren pinken Kleidern auf ihren Retter. Meist sind alle Charaktere weiß. „Julian is a Mermaid“ bricht mit dieser Tradition, als der schwarze kleine Junge sich auf die Suche nach sich selbst und seiner Identität begibt.
In dem Buch taucht man mit märchenhaften Illustrationen in die Welt eines kleinen Jungen ein, der abseits der gesellschaftlichen Vorstellung vom Knaben-Sein das Lebensglück sucht. In seinen Tagträumen trifft Julian auf die kunterbunte Welt der Meere, ist umringt von farbenfrohen Fischschwärmen und tanzt voller Freude mit anderen Meerjungfrauen. Er schwebt anmutig zwischen blau-gepunkteten Meeresgrundeln, schillernden Oktopoden und feuerfarbenen Clownfischen. Wie durch Zauberhand verwandelt er sich in seinen Träumen in eine kleine Meerjungfrau. Ein majestätischer, blauer Fisch überreicht ihm eine rosa Muschelkette.
Angekommen in der Realität lässt Julian zu Hause seiner Fantasie freien Lauf. Er verwandelt sich mit den einfachsten Dingen, die man in einer Wohnung findet, in eine Meerjungfrau – fast wie in seinem Tagtraum. Als ihm plötzlich seine Nana ihre rosa Perlenkette überreicht und sich ein Lächeln in seinem Gesicht ausbreitet, wird klar: Der Junge könnte nicht glücklicher sein und wünscht sich nichts Geringeres von der Welt, als genau so akzeptiert zu werden, wie es seine Nana tut.
Ein Bild sagt bekanntlich mehr als 1000 Worte. Die überwältigenden Aquarelle von Jessica Love sprechen gar ganze Bände. Die fantasievollen Illustrationen erwecken Julians Geschichte ohne große Worte zum Leben. Sie zeigen uns aber auch wie bunt und vielfältig unsere Gesellschaft eigentlich sein könnte, wenn man die Menschen nur ließe.
„Julian is a Mermaid“ ist ein Buch über Fantasie, über Diversität und Individualität. Kinder lernen mit Kinderbüchern wie Gesellschaft funktioniert. Sie vermitteln Normen und Strukturen, die durch eben diese Medien entweder gefestigt oder aufgebrochen werden. Bei vielen Menschen enden die Grenzen ihrer Vorstellungskraft bereits bei Protagonisten, die nicht den gängigen Klischees entsprechen. Wie groß war die Aufregung als Hermine Granger in dem Theaterstück „Harry Potter und das verwunschene Kind“ von einem schwarzen Mädchen verkörpert wurde? Auch als bekannt wurde, dass in der Disney-Realverfilmung „The Little Mermaid“ die Afroamerikanerin Halle Bailey die Protagonistin spielt, zog ein Social-Media-Shitstorm durchs Land.
Jessica Loves Werk geht jedoch diesen Schritt weiter und rückt queere People of Color in den Fokus. Diesem Akt der Selbstreflexion widmet sich die weiße Autorin und bringt uns Geschichten näher, die vor 20 Jahren, als ich ein kleiner Junge war, leider viel zu selten erzählt wurden.