Das Angebot an Filmen, Serien und Dokumentationen bei Apple TV+ erinnert mich immer ein wenig an die Auswahl meiner alten Greißlerei von nebenan. Sie ist überschaubar und man findet jedes Mal dieselben sieben Produkte. Für meine deutschen Freunde und Freundinnen: Eine Greißlerei beschreibt in Österreich einen kleinen, meist inhabergeführten Lebensmittelladen. Das mag auf den ersten Blick natürlich ernüchternd sein – gibt es ja bereits große Supermarktketten wie Rewe und Edeka mit einer schier unendlichen Angebotsvielfalt. Das hat aber auch einen entscheidenden Vorteil: Der Greißler weiß was ich will, es schmeckt und die Qualität ist beispiellos. In meinem Szenario ist Apple TV+ der kleine Greißler von nebenan, der zwar wenig Angebot hat, dafür ist dies sehr hochwertig. Rewe und Edeka stehen stellvertretend für Netflix und Prime Video: Viel Auswahl, dafür muss man bei der Qualität oft Abstriche hinnehmen. Einen der Leckerbissen meiner Greißlerei möchte ich euch ans Herz legen: Visible: Out on Television.
Die Doku-Serie erzählt über die Repräsentation und Darstellung der queeren Community im amerikanischen Fernsehen. Jede der fünf Episoden wird von prominenten Personen der LGBTQ-Community und deren Verbündeten erzählt. Darunter Neil Patrick Harris, Oprah Winfrey, Caitlyn Jenner, Rachel Maddow und Billy Porter. Die persönlichen Anekdoten, Kommentare und kritischen Einordnungen queerer Role Models gehen tief unter die Haut. Zu sehen, wie Ellen DeGeneres über Hassreden und Morddrohungen spricht, die ihr nach ihrem Outing zuteil wurden, treibt einem Tränen in die Augen.
Die Dokumentation erinnert uns, dass die Reise, bis RuPaul seinen berühmten Death Drop in der Primetime zum Besten geben durfte, wahrlich keine einfache war. Nicht ohne Grund heißt die erste Folge von Visible „Dark Ages“: Die ersten Episoden faszinieren mit TV-Archiv-Material aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die zahlreichen schwarz-weiß Szenen belegen eindeutig, wie die TV-Branche queere Persönlichkeiten interpretieren wollte: als mordlustig, verrückt und – wie könnte es anders sein – pervers. Schwule Storylines endeten zumeist mit deren Suizid. Der größte Skandal: Schwule und Trans-Menschen wurden meist von heterosexuellen Cis-Männern interpretiert – Klischees waren programmiert. Die wenigen queeren Charaktere dienten lediglich der Belustigung und dem Gespött des meist homophoben Publikums.
Die Dokumentation zeigt viele erste Male: Die ersten schwulen Nebenfiguren in Sitcoms wie in „All in the Family“ oder den ersten Suizidversuch von Tim Gunn, dem TV-Host von „Project Runway“. Sie zeigt uns aber auch die hoffnungsvollen Fernsehbilder des ersten Kusses zwischen zwei Männern – ein Meilenstein der Fernsehgeschichte. Den Höhepunkt erreicht „Visible“ in der dritten Episode „Die Epidemie“. Die Seuche der 1980-er Jahre, besser bekannt unter den Namen HIV und AIDS, wurde lange Zeit von oben totgeschwiegen. Was passiert, wenn Machthaber eine Epidemie ignorieren, spürt das amerikanische Volk derzeit am eigenen Leib. „Visible“ beeindruckt mit historischem TV-Footage der sogenannten Act-Up Demos in New York. Dank intensiver Fernsehberichterstattung konnten die Demonstranten Millionen Menschen erreichen und so die Politik zum Handeln bewegen. Ohne TV-Bilder wäre dies nicht möglich gewesen.
„Visible“ spricht aber nicht nur über die Entwicklung weißer LGBTQs, sondern rückt auch die Lebensrealitäten schwuler People of Color ins Zentrum. Schwarze Männer fanden meist über die Rolle des Antagonisten ihren Weg ins Fernsehen. Entsprechende Charaktere waren durch ihre exzessive Männlichkeit geprägt. Dieses Bild wurde durchbrochen als sich in der Sitcom „The Wire“, zu Beginn der 2000-er Jahre, der schwarze Gangster Omar in seinen Kumpel verliebt. Ihr leidenschaftlicher Kuss war ein wichtiger Moment für homosexuelle PoC und deren Sichtbarkeit.
Die Dokumentation spannt einen Bogen vom Ende der 1960-er Jahre bis ins Jahr 2020 zur fünften und letzten Episode mit dem Titel „Die neue Garde“. Von bösartigen Schwulen, mordlustigen Lesben und grotesken Trans-Menschen hin zu starken, selbstbewussten, facettenreichen TV-Größen.
Während die ersten drei Episoden mit spannenden, historischen Einblicken brillieren, begeistern die letzten zwei Folgen mit glamourösen und bunten Szenen aus „Pose“, „Queere Eye“ und „RuPauls Drag Race“. Die Mini-Serie bespielte die gesamte Klaviatur der Gefühle: Zwischen Fassungslosigkeit über die verächtlichen Drohbriefe an TV-Sender, die schwulen Charakteren eine Plattform gaben und der Euphorie darüber, wie selbstverständlich heutzutage der amerikanische Anchorman Anderson Cooper offen über seine Homosexualität spricht.
„Visible: Out on television“ ist herzzerreißend, ermutigend, lehrreich und zeigt uns, wie eng der Zusammenhang zwischen Repräsentation, Mitgefühl und Verständnis ist. Talkshow-Moderatorin Oprah Winfrey, die einige Folgen kommentiert, bringt die Message des Werks auf den Punkt: „Wenn du Bilder siehst, die das eigene Leben widerspiegeln, erinnern sie dich daran, dass dein Leben zählt. Und das ist das einzige, worin jeder Mensch bestätigt werden will.“ That’s the power of television.