Deutschland ab 1933. Frankreich vor 1789. Großbritannien seit 2020. Was sich sowohl Deutschland als auch Frankreich einst hart erkämpft haben, wird auf der Insel im Atlantik gerade mit Füßen getreten: die Freiheit der Meinungsäußerung.

Die Mitarbeiter der BBC, liebevoll auch als „Aunty“ bezeichnet, stehen vor massiven Veränderungen. Der Grund ist das wachsende Misstrauen gegenüber der Rundfunkanstalt innerhalb der Bevölkerung. Die BBC sei zu links, zu liberal, zu großstädtisch und der Europäischen Union zu wohl gesonnen, so lautet die Kritik, insbesondere aus dem konservativen Milieu.

Diesen Vorwürfen will der ehemalige Marketingmanager von Pepsi und neue Generaldirektor der BBC, Tim Davie mit einer sogenannten Unabhängigkeits-Strategie Rechnung tragen. Künftig sollen prominente Nachrichten-Journalisten von persönlichen Meinungsäußerungen in der Öffentlichkeit absehen. Das bezieht sich auch auf alle persönlichen Tweets, Retweets oder Kommentare mit politischem Inhalt.  Beim Zuwiderhandeln drohe der Ausschluss aus dem sozialen Netzwerk – „Wir können Leute von Twitter entfernen“, so Davie – oder gar die Kündigung. Auch die Teilnahme an politischen oder umstrittenen Demonstrationen – was das genau bedeutet, bleibt schleierhaft – sei fortan untersagt. Mit den Maßnahmen will Davie das verloren gegangene Vertrauen der Briten in ihre BBC wieder herstellen und für mehr Überparteilichkeit des Senders sorgen.

Diesen Schritt, den wir in Deutschland als massive Verletzung der Freiheit der Meinungsäußerung beurteilen, wird in Großbritannien weniger dramatisch wahrgenommen. Da die Insulaner keine niedergeschriebene Verfassung kennen, ist Meinungsfreiheit auch nicht durch eben diese geschützt. Es gibt kein Grundgesetz, das die freedom of speech als höchstes Gut anerkennt, wie wir es tun. Das Recht auf freie Meinungsäußerung unterliegt in Großbritannien einem größeren Interpretationsspielraum. Und Tim Davie scheint diesen vollends ausschöpfen zu wollen. Jetzt möchte man denken, als Teil der Vereinten Nationen müsste UK und die BBC doch auch Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte mittragen? Darin wird die Meinungsfreiheit der Bürger anerkannt und festgeschrieben. Grundsätzlich ja, aber diese Vereinbarung ist rechtlich nicht bindend. Sie entspricht eher einer Idealvorstellung der UN.

Es ist ein Dilemma: Einerseits hat jeder in einer funktionierenden Demokratie das Recht auf freie Meinungsäußerung – auch auf privaten Social-Media-Profilen. Andererseits strahlen politische Äußerungen bekannter Journalisten auf den Sender ab, der ja qua Gesetz als überparteilich gilt. Dies wiederum schadet dem Ansehen der Anstalt. Was gewichtet nun mehr? Im Jahr 1789 wurde die Meinungsfreiheit in Artikel 11 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte als „un des droits les plus précieux de l’Homme“, zu Deutsch als „eines der kostbarsten Rechte des Menschen“ bezeichnet. 231 Jahre später sieht der BBC-Vorstand dies wohl anders: Das Ansehen der BBC ist wichtiger als die Freiheit der Meinungsäußerung.

Nichtsdestotrotz, frage ich mich dann jedoch: Wieso kommt dieser Aufschrei erst jetzt? Der Kommentar als journalistische Darstellungsform geht bis ins 18. Jahrhundert zurück. Und am Ende des Tages sind Äußerungen auf Twitter eben die digitale Kurzform dieses altbewährten Meinungsstücks. Das jetzt zu verbieten erscheint mir mehr als seltsam. Ja, ich wünsche mir bei manchen Kommentaren einiger Journalisten auf Twitter auch etwas mehr Differenzierung und weniger Polarisierung. Dies würde der Glaubwürdigkeit und Überparteilichkeit des Journalismus guttun. Anstatt mit Verboten sollte die BBC ihre Mitarbeiter lieber mit Sensibilisierungs-Workshops auf das Dilemma des politischen Aktivismus bei Journalisten aufmerksam machen.

In jedem Fall dürfen die BBC-Mitarbeiter nicht einknicken. Die Entscheidungsträger dürfen den Ängsten des konservativen politischen Milieus, die BBC erziehe eine linke Mehrheit, nicht nachgeben. Auch Nachrichtenjournalisten haben ein Recht darauf, auf privaten sozialen Netzwerken das zu publizieren, was sie für richtig halten. Andernfalls befinden sich die Briten, was die freedom of speech anbelangt, dort, wo wir in Deutschland 1933 bereits waren.