Dani hat dort eine neue Familie gefunden. Im Forum gab es Emotionen und Austausch mit Gleichgesinnten. Aber: „Die Entscheidung, pro oder contra Suizid kann ganz klar durch Suizidforen beeinflusst werden.“

TRIGGER-WARNUNG:

Der folgende Text enthält Inhalte, die für labile Menschen nicht geeignet sein könnten. Wenn du dich nicht gut fühlst, empfehle ich diese Reportage nur zusammen mit einer Vertrauensperson zu lesen oder generell davon abzusehen. Falls du akut Hilfe benötigst, so existiert unter der Nummer 0800 1110111 ein umfangreiches Hilfsangebot der Telefonseelsorge. Die Nummer ist kostenlos und rund um die Uhr erreichbar. Auch über deren Webseite kannst du dich informieren und stößt dort auf offene Ohren.

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Suizidforen: Virtuelle Safe spaces?

Chat_SuizidforenBeiträge wie dieser sind öffentlich im Internet einsehbar. Man kann ohne Registrierung und ohne eine Identitätsprüfung diese Inhalte lesen. Wo man diese findet? In Suizidforen.

Suizidforen sind Diskussionsplattformen im Internet, in denen sich Menschen mit suizidalen Gedanken austauschen und miteinander interagieren. So ist auch Dani seit März 2020 in Suizidforen unterwegs – beinahe täglich. Dani und ich telefonieren, da die Distanz zwischen Berlin und der Schweiz einfach zu groß ist und bedingt durch die Corona-Pandemie ein persönliches Treffen in keiner Relation zu Aufwand und Risiko steht. Er ist 52 Jahre alt, wohnt in der Schweiz und ihn begleitet der Suizidgedanke schon sein ganzes Leben lang. Die Teilnahme an den Gesprächen in Suizidforen ist für ihn dabei sehr wertvoll, denn daraus schöpft er Kraft und fühlt sich verstanden. „Durch meine psychische Erkrankung war ich ein Leben lang isoliert, hatte kein soziales Netzwerk und ich hatte jetzt in diesem Forum einen Ersatz gefunden für Kommunikationspartner. Ich kann mit denen Sprechen, schreiben, Probleme diskutieren – das konnte ich nie. Im Forum da wurde ich abgeholt. Da gab es Emotionen. Da wurden Gedanken ausgetauscht. Man hat über die Gesellschaft und die Probleme der Gesellschaft geredet. Da war wirklich Sinn in diesen Gesprächen.”

Deutschlandweit bekannt wurden Suizidforen im Jahr 2000 durch den Gruppensuizid eines Norwegers und einer Österreicherin, die sich in so einem Forum kennengelernt und zum Suizid verabredet haben. Schnell wurden kritische Stimmen laut, wonach diese Foren die Anzahl der Suizide in die Höhe treiben könnten. Dieser Effekt ist in den Zahlen jedenfalls nicht nachzuweisen, da keinerlei Anstieg der Suizide um die Jahrtausendwende in der Statistik verzeichnet werden konnten.* Auch Experten können keinen signifikanten Einfluss von Suizidforen auf die allgemeine Suizidhäufigkeit erkennen.

Am Telefon spreche ich mit dem Diplompsychologen Georg Fiedler über seine Erkenntnisse zu Suizidforen, deren Entstehungsgeschichte und die Auswirkungen auf Suizidanten. Herr Fiedler war 25 Jahre lang am Uniklinikum in Hamburg Eppendorf am Therapie Zentrum für Suizidgefährdete tätig. Seine Forschungsarbeit widmete er zum Großteil der Erforschung menschlicher Suizidalität. Im Zuge dessen setzte er sich intensiver mit Suizidforen auseinander. Auch er sieht die Gefahr von durch Suizidforen ausgelöste Suizid-Epidemien, wie Kritiker dies damals postulierten, nicht. „Vielleicht ist das eher so ein Grundrauschen, was das alles begleitet – nicht aber unbedingt mit einem massiven Einfluss auf die Suizidhäufigkeit.

Die Ambivalenz des virtuellen Safe spaces

Die Motivationen sich bei einem Suizidforum anzumelden sind überaus vielfältig und auch die Community selbst ist sehr heterogen. Es gibt verschiedene Formen von Suizidforen, die sich in ihrer Organisation teils gravierend unterscheiden. Grob lassen sie sich in zwei Kategorien einteilen sagt Dani: Einerseits gibt es unmoderierte Foren, in denen die publizierten Inhalte weder geprüft, noch im Zweifelsfall gelöscht werden und andererseits gibt es moderierte Foren, welche von einer etablierten Usergruppe bestehend aus langjährigen Forumsteilnehmern betreut werden. Für Dani persönlich ist die Organisationsform des Forums kein Kriterium, ob er sich im Forum anmeldet oder nicht. „Die unmoderierten Foren sind meistens ein bisschen, ich sage jetzt mal, härter, weil es dann keine Regeln gibt. Da kann man wirklich alles schreiben und alles fragen. Das ist natürlich auch gefährlich und je nach Forum ist der Tenor auch pro. Also da wird man fast schon unterstützt oder gestoßen.” 

In einer professionellen Therapie werden bestimmte Dinge bewusst nicht angesprochen, da diese besonders für psychisch labile Menschen triggernd sein könnten. Dieser Sicherheitsmechanismus wird in moderierten Suizidforen von professionellen Teams übernommen, die Inhalte blockieren und löschen können. In unmoderierten Suizidforen gibt es diese Form des Gatekeepings nicht, da die Teilnehmer alle Gedanken niederschreiben und veröffentlichen können – ohne jegliche Vorabprüfung. Diese Foren in ihrer Gesamtheit negativ zu bewerten sei jedoch auch schwierig, argumentiert Georg Fiedler: „Auf der anderen Seite, scheint es auch viele Leute zu geben, für die die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod in diesen Diskussionen über „wie kann ich mich töten“ stabilisierende Funktionen hat. So paradox das auch klingt. Also dadurch, dass sie es diskutieren, müssen sie es nicht unbedingt machen. Alle diese Angebote haben für manche eher eine stabilisierende und für manche eher eine labilisierende Wirkung.” 

Suizidankündigungen im forum sind straffrei

9 396 Menschen nahmen sich im Jahr 2018 in Deutschland das Leben.* Alle 56 Minuten wird ein Suizid vollzogen. Männer begehen 3x häufiger Suizid als Frauen. Die Suizidanten sind im Schnitt 58 Jahre alt und die am häufigsten gewählte Methode ist der Tod durch Erhängen oder Strangulieren. Laut dem Statistischen Bundesamt ist in Deutschland die Suizidrate in den vergangenen 40 Jahren um ca. 50% gesunken.* Gründe dafür seien umfangreiche Präventionsmaßnahmen und Hilfsangebote für Betroffene. Suizid war lange Zeit ein absolutes Tabuthema und ist es zum Teil auch noch bis heute. Jedoch sinkt in unserer Gesellschaft zusehends die Hemmschwelle, sich über psychische Krankheiten auszutauschen, wodurch diese frühzeitig erkannt und therapiert werden können.

Der Suizidversuch ist in Deutschland als Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts straffrei. Man darf über Suizid sprechen und ihn auch ankündigen. Bei letzterem droht einem jedoch wegen erheblicher Selbstgefährdung die Einweisung in eine psychiatrische Klinik. In moderierten Suizidforen werden pro-suizidale Inhalte, Suizid-Ankündigungen, öffentliche Vereinbarungen zum Gruppensuizid und Methodendiskussionen meist gelöscht und User, welche diese Inhalte posten, gebannt. Der Ausschluss aus einer Community kann für Forumsteilnehmer jedoch ebenso traumatisch sein, wie das Lesen dieser potentiell triggernden Inhalte. Diese Erfahrung hat auch Dani machen müssen. „Ich bin da (aus einem Forum) rausgeflogen, weil ich zu offen kommuniziert habe. Ich habe auch Methoden kommuniziert über PN (Privatnachricht) und sie hatten keine Freude, sagen wir mal so. Ich habe es jemanden erklärt und der hat sich kurz darauf umgebracht und das wurde bekannt und deshalb wurde ich als der böse Mörder herausgeschmissen. Als ich aus dem Forum ausgeschlossen wurde, brach für mich eine kleine Welt zusammen. Also ich war 1-2 Tage lang nicht nur suizidal veranlagt, sondern ich hatte extremste Todeswünsche, weil ich die Familie wieder verloren habe.”

Prävention durch Suizidforen ist eine gewagte Annahme

In einer Befragungsstudie aus dem Jahr 2004 gaben 30% der Teilnehmer, die eine Veränderung ihrer Suizid-Gedanken wahrnehmen konnten, an eine Abnahme des Suizidwunsches während der Forums-Partizipation bemerkt zu haben. Ein Großteil der Befragten bemerkte keinerlei Veränderung ihrer Gedanken und nur ein kleiner Teil nahm eine Zunahme der Suizidwünsche bei sich wahr.** Dass Suizidanten durch die Forumsteilnahme ihre Gedanken überwinden können, hat auch Dani in den letzten Monaten mehrfach beobachtet. „Ich habe in viele Foren gelesen von Personen, die nach 2 Jahren Mitgliedschaft in dem Forum, sich verabschiedet haben. Die ganz klar gesagt haben: ‚Ich bin hierher gekommen, weil ich sterben wollte, jetzt sind zwei Jahre vergangen, mir geht es gut. Danke euch! Ihr habt mir so geholfen. Ohne euch wäre ich nicht mehr da.’ Ich persönlich habe schon mindestens drei Personen vom Suizid, nur durch meine Nachrichten abgehalten. Die sagten: ‚Na gut, ich probiere es nochmal.‘ Das passiert eigentlich sehr häufig, sagen wir mal so.” 

Von einer generellen Tendenz, Suizidforen würden eher präventive Funktionen erfüllen, kann man jedoch nicht sprechen. Das sieht auch der Diplompsychologe Georg Fiedler so: „Dass die Foren suizid-präventiv wären, ist eine gewagte Annahme. Es ist kein Club, wo es eine Identitätsprüfung gibt oder so etwas. Sondern es kommen alle möglichen Leute mit allen möglichen Intentionen da rein und es gibt auch Leute, die sehr provokativ sind und Suizid-Intentionen auch manchmal verstärken können. Es ist ein Stil der Diskussionen, der für manche stützend ist aber grade für junge Leute möglicherweise eher desillusionierend.“

Die Anonymität des Internets führt in wenigen Fällen auch dazu, dass manche Teilnehmer ihre dunkelsten Seiten zu Tage bringen – ohne Rücksicht auf die Verluste anderer. So begegnete Dani in einem Suizidforum bereits Internet-Trollen, die sich am Leid ihrer Mitmenschen ergötzten: „Man weiß ja selbst wie verletzlich man ist und es passiert, dass es Fake-Accounts gibt, die nur darauf aus sind, das Gegenüber virtuell per Text zu zerstören, kaputtzumachen. Ja, zu zerstören ist eigentlich das richtige Wort.“

Virtuelle Suizidforen sind real

Bevor man sich bei einem Forum anmeldet, sollte man sich gut überlegen, mit welcher Intention dies geschieht, da Foren – je nach inhaltlicher Ausrichtung und Organisation – die Entscheidung über den Suizid beeinflussen können. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass Menschen sich hinter einem anonymen Profil verhüllen können und im schlimmsten Falle auch böse Absichten hegen. Nichtsdestotrotz kann man in diesen Foren auch auf offene Ohren stoßen, sich mit Gleichgesinnten austauschen und eine kleine virtuelle Familie finden. Suizidforen sind jedenfalls ein fester Bestandteil der Lebensrealität von Suizidanten und daher ist eine Auseinandersetzung mit diesen Plattformen aus therapeutischer und wissenschaftlicher Perspektive unumgänglich – auch und ganz besonders im Sinne der Betroffenen.

In einer Veröffentlichung der Diplom-Psychologin Prof. Dr. Christiane Eichenberg, empfiehlt sie, die klinische Aufmerksamkeit vor allem darauf zu richten, die Selbsthilfe suizidaler Internetnutzer mit professioneller Online- und Offline-Hilfe zu vernetzen. Frau Dr. Eichenberg widmete einen Großteil ihrer Arbeiten unter anderem der Erforschung von Suizidforen. In vielen Publikationen setzte sie sich mit der Struktur der Teilnehmer auseinander und führte zahlreiche Online-Befragungen in den Foren durch, um den noch defizitären Forschungsstand zu erweitern.

Ob Suizidforen suizidpräventiv wirken können, hängt sehr stark von ihrer inhaltlichen Ausrichtung und ihrer internen Organisation ab. Dani sagte am Telefon zu mir, er würde Suizidforen als Teil der Therapie nur in Betracht ziehen, wenn diese von Psychologen betreut und moderiert werden. Wenn das Ziel der Therapie, die Verhinderung des Suizids ist, dann müssen die Antworten und Reaktionen in den Foren gesteuert und kontrolliert werden. Andernfalls kann auch ein gegenteiliger Effekt eintreten. „Aber wenn es ein offenes Forum ist, ist es für die Behandlung sehr, sehr schädlich, wenn nur einmal ein falscher Post kommt. Die Entscheidung, pro oder contra Suizid kann ganz klar durch das Forum beeinflusst werden.” 

Szenebeobachtung, ja – Löschung, nein

Jugendschutz.net, das gemeinsame Kompetenzzentrum von Bund und Länder für den Schutz von Kindern und Jugendlichen im Internet, beobachtet deutsche Pro-Suizidforen schon seit einigen Jahren. Dies dient vor allem der Szenebeobachtung. Durch ein gezieltes Plattform-Monitoring sollen Pro-Suizid-Angebote, die den Suizid als alleinige, alternativlose Lösung darstellen, sowie keine Möglichkeiten zur Krisenbewältigung aufzeigen, ausfindig gemacht und im Zweifelsfall auch gelöscht werden.

Die Betrachtung von Suizidforen muss sehr differenziert und behutsam geschehen. Sie einfach zu verbieten oder unentwegt neue Foren zu löschen, wird zu keinem Ergebnis führen, denn dann wandert die Kommunikation ins Darknet ab, wo allen Organisationen und Verbänden die Hände gebunden sind. Eine Kontrolle ist dort quasi ausgeschlossen.

Wenn jemand felsenfest davon überzeugt ist, sich das Leben nehmen zu wollen – dies womöglich auch schon einige Jahre plant – so ist es ohnehin fraglich, ob das Abhalten von der Forumsnutzung diese Entscheidung überhaupt noch beeinflussen könnte. Als Dani beschlossen hat, sich bei einem Suizidforum anzumelden, stand seine Entscheidung bereits fest. „Die Gedankengänge, die man hat – nur die Betroffenen können das verstehen und nur die Betroffenen können auch Lösungswege und Auswege aufzeigen, die funktionieren. Von daher: Prävention ist gut, aber wenn jemand nicht gerettet werden möchte, dann will er kein Präventionsforum haben. Dann will er ein Forum haben, was ihm sagt, wie er sich umbringen kann. Ich wusste schon, dass ich mich umbringen werde und auch schon ungefähr wie, aber ich wollte mich noch austauschen.“

Die Interviews wurden im Juli 2020 geführt.

*Die Zahlen zu den vollzogenen Suiziden in Deutschland stammen vom Statistischen Bundesamt.

**Die im Text angesprochene Befragungsstudie ist bei Ärzteblatt.de zu finden.