In seinem Intro schreibt der Autor: „Dieses Buch ist also ein Versuch. Ein Versuch greifbar zu machen, wie sich alltägliche Diskriminierung anfühlt.“ Ich kann sagen: Versuch geglückt.
Der Autor und Illustrator Julius Thesing beschäftigt sich in seinem Werk mit Alltagsdiskriminierung. In dem im Jahr 2020 erschienenen Graphic Novel You don’t look gay enttarnt er die vielen Momente, in denen homosexuelle Menschen mit Diskriminierung konfrontiert werden. Insgesamt acht Kapitel laden uns Leser ein, um über diskriminierende Sprache, Klischees, Stereotypen und traditionelle Geschlechterrollen zu reflektieren. Sein Werk ist kein Manifest, kein Lehrbuch und gibt auch keine konkreten Lösungsvorschläge. Er missioniert seine Leser nicht. Er informiert, ohne dabei mit erhobenem Zeigefinger zu belehren. Seine persönlichen Geschichten und kritischen Analysen sind als Gesprächsangebot zu verstehen. In einem Interview zu seinem Buch sagte der Autor einmal: „Ich will kein Mitleid haben, ich will beschreiben, sensibel machen.“
Ich hab’ ja nichts gegen Schwule, aber…
Beim Öffnen des rosafarbenen Buchs wird man von einem kleinen, roten Herz begrüßt und man erahnt: Ab jetzt wird es intim. Julius Thesing entführt als Ich-Erzähler seine Leser auf eine sehr persönliche Reise. Eine Reise in die Gedankenwelt eines schwulen Mannes. Wir dürfen teilhaben an homophoben Erfahrungen, an der Angst vor Ablehnung, erleben sein Coming-out und lesen über seine Suche nach Akzeptanz. Das Buch ist vollgepackt mit Phrasen und unangenehmen Situationen, die schwule Männer nur zu gut kennen und bis in die Träume verfolgen.
„Das ist doch bestimmt nur eine Phase, oder?“
„Du siehst gar nicht schwul aus.“
„Mit Schwuchtel meine ich ja nicht dich!“
Beim Lesen frage ich mich: Ist der Tabubruch wirklich so lustig, dass man den Kollateralschaden in Kauf nimmt? Und wenn scheinbar niemand diese homophoben Sprüche ernst meint, wieso gibt es Schwulenhass dann überhaupt? Und wieso ist es eigentlich in Ordnung, wenn sich eine Horde grölender Männer in der Stammkneipe über die „geile Fußballmoderatorin“ lustig macht, wenn zeitgleich das Hissen einer Regenbogenfahne als propagandistisch und übergriffig abgewertet wird? Als Leser fühlt man sich bei einigen seiner Geschichten ertappt. Manche Situationen erlebte man vielleicht schon aus der Sicht des Opfers. In anderen erkennt man sich in der Rolle des Täters wieder. Diese persönlichen Anekdoten werden immer wieder von statistischen Daten und Fakten unterbrochen.
„74 Prozent der Befragten einer Studie hatten Angst, ihre Freunde würden sie nach ihrem Coming-out ablehnen und die Freundschaft kündigen.“
„In 73 Staaten der Welt wird Homosexualität, speziell gleichgeschlechtliche sexuelle Aktivität unter Männern, als Strafe behandelt und verurteilt. In 12 der 73 Staaten steht gleichgeschlechtliche sexuelle Aktivität unter Androhung oder Garantie der Todesstrafe.“
Diesen schrecklichen Tatsachen werden in dem Buch viel Platz eingeräumt. Thesing inszeniert diese unfassbaren Zahlen mit großen, fett gedruckten, schwarzen Lettern über ganze Doppelseiten. Dadurch wirken sie mindestens so bedrohlich wie der Inhalt, den sie beschreiben. Man wird von den Botschaften beim Lesen beinahe erdrückt. Es ist ein Versuch, nachfühlen zu können, wie es den zahlreichen Opfern erging, die wegen diesen und ähnlichen Gesetzen bereits viel Leid erfahren mussten.
Man muss leise schreien, um gehört zu werden
Einen Höhepunkt erreicht das Buch auf den Seiten 30 und 31. An der Stelle erzählt Thesing detailliert, wie sich das Outing vor seinen Eltern für ihn anfühlte. Er verglich es mit einem ewigen Marathon und endlich hätte er die Zielgerade überquert. Seine Eltern reagierten gelassen und ruhig. „Wenn innerhalb der engsten Familie das Gefühl herrscht, der Mensch sein zu können, der man sein möchte, ist damit schon viel getan.“ Das dies auch heute noch keine Selbstverständlichkeit ist, verdeutlicht der Autor mit einem Zitat des brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro:
„Ich könnte einen homosexuellen Sohn nicht lieben. Ich würde es vorziehen, dass mein Sohn bei einem Unfall ums Leben kommt, als dass er hier mit einem Typen mit Schnurrbart auftaucht.“
Das Zitat ist in großen, roten Lettern abgedruckt. Es wirkt, als würde Thesing diese Worte lauter drehen. Als würde er sie seinen Lesern entgegen schreien, sodass sie nicht überhört werden können. Mit der plakativen Aufmachung wesentlicher Textstellen will der Autor wachrütteln.
Dem Thema Alltagshomophobie wird in You don’t look gay auch illustratorisch begegnet – und zwar mit einem kleinen Schmunzeln. In seinen Zeichnungen spielt Thesing mit Klischees, karikiert Rollenbilder, persifliert bekannte Kunstwerke und schafft Typen abseits des Mainstreams. Seine Illustrationen sind simpel, bestehen lediglich aus dicken, schwarzen Linien und einer sanften Farbgebung. Die kleinen versteckten Details laden dazu ein, einen zweiten oder sogar dritten Blick auf die Kunstwerke zu werfen. So sieht man beispielsweise auf den ersten Blick nur einen jungen, von Pflanzen umringten Mann, der am Wasser sitzt und die Füße in den Teich baumeln lässt. Erst bei genauerem Hinsehen entdeckt man die vielen, kleinen Narben am Körper des Mannes. Die ausdrucksstarken und vielschichtigen Illustrationen zeigen Julius Thesing in den verletzlichsten Stunden seines Lebens.
Mit seinen Zeichnungen will er aber auch provozieren und zum Nachdenken anregen. Manche sind düster und zeigen zwei Männer, die den Tod durch den Strick fanden, weil ihre Liebe verboten war. Einmal präsentiert er ein Remake von Boticellis Geburt der Venus mit einem Jungen in der Muschel. Ein anderes Mal verfälscht er Grant Woods Gemälde American Gothic und ersetzt die Frau durch einen bärtigen Mann. Er illustriert Männer mit Hundemasken und Schnauzbart-Träger mit umgeschnalltem Harness. Finden wir das jetzt witzig? Abstoßend? Oder völlig normal? Mit diesen oder ähnlichen Fragen wird man in dem Buch ständig konfrontiert und lernt somit auf humorvolle Art und Weise seine Vorurteile zu überwinden.
No fem, no fat, no asian
Julius Thesing hält jedoch nicht nur der heterosexuellen Mehrheitsgesellschaft den Spiegel vor, sondern beschäftigt sich auch intensiv mit Diskriminierung innerhalb der LGBT-Community – vor allem auf Dating-Plattformen. Er zitiert dafür Chats schwuler Männer:
„Ich suche nach einem Mann für Spaß und mehr. Mit Betonung auf Mann, bitte keine Tunte.“ oder „Keine Tucken, keine Fetten, keine Asiaten. Sorry, nicht böse gemeint, aber ist nicht mein Typ.“
Ich frage mich: Kann man gleichzeitig mehr Toleranz für diskriminierte Communities fordern aber Ausgrenzung in den eigenen Reihen dulden? Was tun, wenn selbst ein vermeintlicher Safe Space mit toxischer Männlichkeit infiltriert wird? Wie darf man als schwule Person sprechen, gehen und gestikulieren? Darf man als Mann Nagellack tragen und die Farbe Pink schön finden? Thesing beschreibt in dem Graphic Novel den Spagat, den er tagtäglich meistern muss, um einerseits von der queeren Community akzeptiert zu werden und andererseits keine Ablehnung von unserer heteronormativen Gesellschaft erfahren zu müssen. You don’t look gay ist nicht zuletzt auch ein Appell an die LGBT-Community, die eigene Vielfalt in ihrer Farbenpracht zu würdigen. Die vielen Darstellungen in dem Buch von schwarzen, behaarten, dicken, femininen, alten und jungen Schwulen erwecken diese Utopie zum Leben.
Schwul zu sein ist politisch
In dem Kapitel Von der Mehrheit unterdrückt beschreibt Thesing die kuriosen Szenen bei der sogenannten Straight Pride Parade in Amerika. Mit Straight Live Matters-Transparenten und Make America straight again-Kappen demonstrieren vornehmlich heterosexuelle, weiße Cis-Männer gegen den angeblichen Regenbogen-Dschihad, der seine Überzeugung der Mehrheit überstülpen möchte. Man fragt sich: Wieso steigt ein kleiner Teil einer privilegierten Mehrheit auf die Barrikaden, wenn eine offensichtlich diskriminierte Minderheit beginnt ihre Stimme zu erheben? Eine Antwort auf diese Frage kann das Buch leider nicht geben. Aber es kann den Diskurs darüber anstoßen.
Julius Thesing liefert uns mit seinem Graphic Novel You don’t look gay eine messerscharfe Beobachtung schwulen Lebens in unserer heutigen Gesellschaft und spricht über seine intimsten Erfahrungen. Er analysiert, reflektiert und lässt dabei aktuelle Entwicklungen und Fakten nicht außer Acht. Transpersonen und lesbische Frauen finden in den knapp 90 Seiten keinen Platz. Das mögen die einen zu Recht kritisieren. Fakt ist jedoch auch: Über deren Geschichten muss man eigene Bücher schreiben.
You don’t look gay ist ein kämpferisches Buch, was den Schwachen eine Stimme geben möchte und endet mit einem wichtigen Appell: „Den Kampf gegen Diskriminierung und für Gleichberechtigung dürfe man nicht als Kampf gegen die eigenen Privilegien verstehen, sondern als Kampf für die Rechte aller.“
Die Kritik als Animationsvideo findet ihr hier.
Bilder: Illustrationen von Julius Thesing aus You don’t look gay
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